Was hat Alt-Alt-Alt-Bundespräsident Roman Herzog mit der OMR zu tun?

Vor gut 25 Jahren hielt Herzog seine berühmte „Ruckrede”, jetzt beim Hamburger Online-Marketing-Festival tat Sascha Lobo es ihm nach: „Es muss ein KI Ruck durch Deutschland gehen“, stand über der Keynote, mit der der Internet-Kenner zur Eröffnung der OMR den Takt vorgab: Künstliche Intelligenz war das große Thema dieser Messe. Es stellte den Dauerbrenner Influencermarketing (trotz prominenter Besetzung von Pamela Reif bis Robert Geiss) genauso in den Schatten wie den 2022er-Schwerpunkt New Work. 

Die wichtigsten Erkenntnisse, die wir aus Hamburg mitnehmen:

1. Achtung vor der Mittelmäßigkeit

Wir brauchen Antworten darauf, wie wir kreative Mittelmäßigkeit vermeiden – denn auf eine solche steuern wir zu, wenn wir zu sehr auf Künstliche Intelligenz vertrauen. „Das Geniale ist in der Regel nicht das Wahrscheinlichste“, sagte Jonas Andrulis, der CEO von Aleph Alpha, auf der OMR-Bühne. Aleph Alpha ist der einzige ernsthafte ChatGPT-Konkurrent aus Deutschland – und funktioniert ähnlich wie das US-Pendant auf Basis von Wahrscheinlichkeiten, anhand von denen das Tool Texte, Datenvisualisierungen, Code-Schnipsel usw … erstellt. 

Bedenklich erscheint auch das Versprechen, KI könne uns Menschen die ganzen standardisierten Basisjobs abnehmen – vom Redigieren oder Zusammenfassen von Inhalten bis zur Gestaltung standardisierter Layouts: Denn können künftige Generationen Kreativer überhaupt noch exzellente Konzepte, Designs oder Texte liefern, wenn im Alltag die Übung an Standardprodukten fehlt?

2. Sorgen um Europas Rolle in der Welt

KI muss in Unternehmen zum Pflichtprogramm und praktisch eingesetzt werden – oder, wie es Lobo nennt: „KI muss herbeiinvestiert werden.“ Die OMR bestätigt leider, dass Europa auch bei Künstlicher Intelligenz schon wieder abgehängt zu werden scheint: Was innovativ wirkt, ist made in USA (oder China – wobei der Blick gen Fernost in Hamburg viel zu kurz kam). Die Google-Präsentation über KI-Anwendungen im Alltag hat das beeindruckend gezeigt – mit Cases aus der Mammografie bis zur Vorhersage von Überschwemmungen. Und jetzt will Google auch in Hamburg den Verkehr mithilfe von KI flüssiger fließen lassen. 

Das alles hat mit unserem Fokus, nämlich KI in Kommunikation und Marketing, nicht zu tun, aber es ist super spannend zu sehen. Und nachdem Europa bei einigen Zukunftstechnologien der vergangenen Jahrzehnte (Internet, Solarenergie, Elektromobilität) bereits abgehängt worden ist, sind Sorgen berechtigt. Lobo warnte in gewohnt markigen Worten: „Deutschland wird nur dann ein reiches Land bleiben, wenn die KI-Transformation gelingt. Und zwar nicht nur technologisch, sondern in allen Facetten.“ 

3. Wer ist hier der Böse?

Führend – und das ist nicht ironisch gemeint – dürften wir hierzulande zumindest in der Debatte um KI-Ethik und -Moral sein. Markus Lanz’ Interview mit Richard David Precht war mit das beste, was diese OMR bot: Der Philosoph räumte erst einmal mit einem aktuell sehr gängigen Horrorszenario auf: dass die Maschinen böse würden und deswegen die Menschheit – je nach Storyline – unterjochten oder auslöschten. „Maschinen haben keinen Willen und werden sich diesen bei aller Intelligenz auch nicht aneignen – und böse im eigentlichen Verständnis kam nur sein, wer dies willentlich tut“, so Precht. 

Wenn KI aus dem Ruder läuft, dann weil wir sie mit böser Intention oder Fehleingaben dazu bringen. Dieses Risiko muss die Politik lösen, etwa durch klare Gesetze, dass KI beispielsweise nicht über menschliche Schicksale entscheiden darf. Die KI selbst aber zu kontrollieren oder zu regulieren, ist der falsche Weg, sagt auch Precht. Es bleibt daher wirklich zu hoffen, dass der geplante „AI Act“ der EU aus politischer Übervorsicht oder fehlender KI-Expertise der Politik die dringend nötige Innovation in Europa nicht ausbremst. 

Was uns noch mehr beschäftigt hat: Prechts Mahnung, dass KI massive Risiken birgt, Vertrauen zu gefährden. Der Grund: dass man immer schlechter erkennt, welche Bilder, Texte oder Videos wirklich noch echt sind: „Wenn ich meinen Augen und Ohren nicht mehr trauen kann, erodiert Vertrauen”, so Precht. Und das ist gefährlich, weil Vertrauen der Kitt ist, der Gesellschaft zusammenhält.“ Weitergedacht, klingt das durchaus dramatisch: Was, wenn Menschen nicht mehr glauben, was sie in Online-Medien oder allgemein im Internet hören, sehen und lesen? „Dann glauben wir das, was am nächsten dran ist an unseren Einstellungen und unserem Wissen“, sagt Precht. Das Ergebnis wäre noch mehr gesellschaftliche und politische Polarisierung.

ChatGPT ist Vergangenheit – es beginnt Phase 2 der KI-Revolution

Und noch zwei Randnotizen. Zum einen stellte Google die Fähigkeiten seines KI-Textgenerators Bard auf der Bühne nur noch in einem vorproduzieren Kurzvideo dar. Im Publikum sorgt das für Feixen und Schmunzeln – bei einer der letzten Vorführungen von Bard hatte die Software bekanntermaßen ja falsche Fakten ausspuckt, woraufhin die Google-Aktie zeitweise um acht Prozent abstürze. Ob Vorsichtsmaßnahme oder nicht – auf jeden Fall zeigt es, wie groß die Sensibilität von Google, das quasi parallel bei der eigenen Entwicklerkonferenz I/O in Kalifornien die Erwartungen an Bard nochmals dämpfte, beim Thema KI weiterhin ist. In Deutschland wird das Tool ohnehin zunächst nicht angeboten.

Randnotiz Nummer zwei: „ChatGPT war der iPhone-Moment der künstlichen Intelligenz“, sagte Lobo. Fällt etwas auf? „War“ – Lobo spricht von dem Hype um den KI-Superstar bereits in der Vergangenheit. Zurecht: Wir befinden uns bereits in Phase 2 des aktuellen KI-Boooms in Kommunikation und Marketing: dass ChatGPT und die übrigen Tools am Start sind und wie sie funktionieren – Haken dran. Die Diskussionen auf der OMR belegen, dass jetzt andere Fragen in den Vordergrund drängen:

  • wie die Implementierung im Unternehmensalltag schnellstmöglich gelingt
  • wie wir angesichts der „Angst vor KI“-Debatte vermeiden, dass Innovation in Europa ausgebremst wird
  • wie wir soziale oder sogar gesellschaftliche Spaltung vermeiden – auch das ist eine Frage, bei der Unternehmen als Vorbilder dringend gefragt sind

Und wie geht’s nun weiter? Die Antwort gab die Transformationsforscherin Maja Göpel: „Die Zukunft kommt nicht auf uns zu, sondern wird durch die Entscheidungen gemacht, die wir heute treffen.“ In ihrem Vortrag sprach sie zwar über Klimaschutz und nicht über den Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Aber für letzteren gilt dies ganz genauso – und wir haben ähnlich wenig Zeit …